Willkommen bei Disability-Art!
Behinderung war schon immer Teil des menschlichen Seins. Im Laufe der Geschichte dienten Menschen mit Behinderungen oft als visuelle und kulturelle Objekte und nicht als aktive Teilnehmer*innen und Schöpfer*innen von Kultur und Medien. Menschen mit Behinderungen haben in der Regel weder entschieden, wie sie in der Kunst dargestellt werden sollten, noch waren sie an der Schaffung der Kunstobjekte beteiligt, in denen ihre Körper auftauchten. Stattdessen haben Künstler*innen und Autor*innen verschiedene Behinderungen genutzt, um Ideen über das Böse, das Leid, die Gnade und die menschliche Natur zu vermitteln und Stereotypen über Behinderungen zu untermauern. Behinderung ist eine subjektive, körperliche und komplexe soziokulturelle Konstruktion. Die Betrachtung behinderter Körper in der Kunstgeschichte bietet bedeutende Einsichten in die verschiedenen Arten, wie Kunst die Konstruktion und Leistung normativer Werte unterstützen oder untergraben kann. Die Erkenntnis, wie Kunst Behinderung ausführt, stellt letztlich das eindimensionale Verständnis von Behinderung und Kunst in Frage.
Mit unserem Projekt ‘Disability-Art‘ möchten wir die Lücke im primär westlichen Kunst-Kanon schließen und über die Social Media-Plattform ‘Instagram‘ interaktiv der Thematik Sichtbarkeit schenken. Zusätzlich ist es unser Anliegen den Kanon, welcher in den Lehrplänen deutscher Schulen an Integrität und Diversität mangelt, zu erweitern und neuen Horizonten zu widmen, damit auch in der allgemeinen Bildung die Präsenz verschiedenster Menschen ihren Platz findet und sie als Agenten anerkannt werden.
Instagram Link: https://www.instagram.com/disability_art/

Antike und Mittelalter
In der Antike und im Mittelalter wurden Menschen mit Behinderungen oft als Kuriositäten oder als von den Göttern bestraft betrachtet. Ihre Darstellungen in der Kunst waren selten und oft negativ konnotiert. In einigen Kulturen, wie im alten Rom und Griechenland, wurden Behinderungen manchmal als Zeichen göttlichen Missfallens angesehen. Skulpturen und Gemälde aus dieser Zeit zeigen selten Menschen mit sichtbaren Behinderungen, da körperliche Perfektion oft idealisiert wurde.
Jedoch gab es Ausnahmen: In einigen ägyptischen Kunstwerken wurden Zwerge als Diener oder Götterdarstellungen gezeigt, die besondere spirituelle Bedeutung hatten. In mittelalterlichen Manuskripten tauchen manchmal Menschen mit Behinderungen auf, oft in biblischen Szenen, wo ihre Heilung durch Heilige oder Jesus Christus dargestellt wird.
Renaissance und Barock
In der Renaissance und Barockzeit begann sich die Darstellung von Menschen mit Behinderungen zu verändern. Künstler wie Leonardo da Vinci und Michelangelo interessierten sich für die menschliche Anatomie und schufen detaillierte Studien, die auch Menschen mit verschiedenen körperlichen Merkmalen umfassten. Die Kunst dieser Epoche zeigte eine zunehmende Faszination für die Vielfalt der menschlichen Gestalt und für wissenschaftliche Erkundungen des Körpers, welche jedoch stets mit dem Merkmal der ‚Abweichung‘ konnotiert waren.
Ein berühmtes Beispiel aus dieser Zeit ist „Die Krüppel“, von Pieter Bruegel dem Älteren (1568), das eine Gruppe von Menschen mit körperlichen Behinderungen zeigt. Obwohl das Bild möglicherweise eine satirische Absicht hat, zeigt es doch ein bemerkenswert realistisches Interesse an den Lebensbedingungen dieser Menschen.
18. und 19. Jahrhundert
Mit dem Aufkommen der Aufklärung und der Industrialisierung änderte sich die Wahrnehmung von Behinderungen weiter. Menschen mit Behinderungen wurden zunehmend in wissenschaftlichen und medizinischen Kontexten untersucht und dargestellt. Die realistische Kunst dieser Zeit spiegelte die Gesellschaft wider, in der sich Menschen mit Behinderungen oft am Rande befanden.
Der spanische Maler Francisco de Goya, bekannt für seine scharfe soziale Kritik, stellte in seinen Werken oft Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen dar. In der Serie „Los Caprichos“ (1797-1798) thematisiert er gesellschaftliche Missstände und Aberglauben, wobei er auch auf die Behandlung von Menschen mit Behinderungen hinweist.
20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert brachte signifikante Veränderungen in der Darstellung und Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen. Die Bürgerrechtsbewegungen und der zunehmende Fokus auf Individualität und Diversität führten dazu, dass Menschen mit Behinderungen in der Kunst sichtbarer und selbstbestimmter wurden.
Seit dem Jahr 2000 haben Bilder von Menschen „mit kognitiver Behinderung oder einer psychischen Krankheit Konjunktur auf dem Kunstmarkt“ (Mürner 1999, S. 17). Am bekanntesten sind die Künstler*innen der niederösterreichischen Landesnervenklinik Ost – Klosterneuburg-Gugging (geschlossen seit 2007, jetzt Art Brut Center). Im Jahr 1921 hat der österreichische Psychiater Leo Navratil seinen Pavillon „Haus der Künstler“ initiiert. Im Jahr 1954 hat er mit dem Zeichnen als Behandlungsmethode und Untersuchungsmethode begonnen und seine Patient*innen nach dem Erstgespräch darum gebeten, einen Menschen zu zeichnen. Als Material hat er zu Beginn Bleistifte und weiße Kartons zur Verfügung gestellt. Später ergänzte er das Material mit Buntstiften und Wasserfarbe. Er hat festgestellt, dass durch seine Aufforderungen und trotz des geringen und einfachen Materials, originelle Arbeiten entstehen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, hat Mürner selbst festgestellt: „Ich habe es ausprobiert, das Resultat war ziemlich enttäuschend und glich einem harmlosen Selbstporträt“ (Mürner 1999, S. 19). Bekannte Patienten sind unter anderem Fritz Koller, Johann Lutz, Georg F. und Oswald Tschirtner gewesen. Mürner erläutert:
„Wie beeindruckend dagegen der Mann von Fritz Koller, wie bedrohlich der Mensch von Max, wie ängstlich die Frau von Johann Lutz (Pseudonym), wie überraschend der Mann von Georg F., wie faszinierend der Mensch vor einem Fenster von Oswald Tschirtner“ (Mürner 1999, S. 19).
Navratil bezeichnete die Kunst seiner Patient*innen als „zustandsgebunden“. Dies bedeutet, dass die Kunst seiner Patienten zum einen von ihren „schmerzlichen Bewusstseins- und Erlebniszuständen abhängig“ (Mürner 1999, S. 19) und zum anderen zugleich jedoch „unabhängig von traditionellen künstlerischen oder kulturellen Ausdrucksformen [ist]“ (Mürner 1999, S. 19). Sie ist Außenseiterkunst. Jean Dubuffet hat einige Gugginger Werke in seine Sammlung aufgenommen. Dies hat dazu geführt, dass Zeichnungen und Malereien aus psychiatrischen Einrichtungen neu bewertet worden sind. Zudem ist die ältere Bezeichnung („psychopathologische Kunst“) von ihm zurückgewiesen worden, denn Dubuffet sagt aus, „dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken“ (Dubuffet 1991, 94). Als alternative Bezeichnung für Kunst von „Geisteskranken“ prägt er den Begriff der „Art Brut“. Von den Kunstwerken der „Geisteskranken“ – sowie von Kunstwerken von Kindern – ist Dubuffet sein Leben lang fasziniert gewesen. Nicht zuletzt deswegen, weil sich die Kunst nicht an bürgerlichen Normen orientiert. So eignete sich Dubuffet den künstlerischen Stil und die Techniken der gesellschaftlichen Außenseiter*innen an.
Quelle: Mürner, Christian: Missachtung, Mystifizierung, Anerkennung. Ein Überblick zur Außenseiterkunst – Wahnsinn und Behinderung. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (1999), Nr. 2/99., S. 17-32.
Ein weiteres Beispiel (neben den Gugginger Patient*innen) ist außerdem Frida Kahlo, deren Kunstwerke ihre eigenen körperlichen Schmerzen und Behinderungen offen thematisieren. Ihre Selbstporträts wie „Die gebrochene Säule“ (1944) zeigen ihre Wirbelsäulenverletzung und tragen zur Enttabuisierung von Behinderungen bei. Ebenso beeinflusste die Entstehung von Bewegungen wie der Art Brut oder Outsider Art, die Werke von Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen anerkannten, die Kunstszene erheblich.
Gegenwart
In der zeitgenössischen Kunst sind Menschen mit Behinderungen sowohl als Künstler*innen als auch als Subjekte stärker vertreten. Es gibt eine zunehmende Anerkennung und Wertschätzung für die einzigartigen Perspektiven und Erfahrungen, die Künstler*innen mit Behinderungen einbringen.
Judith Scott, eine amerikanische Bildhauerin mit Down-Syndrom, schuf komplexe, faserbasierte Skulpturen, die internationale Anerkennung fanden. Ihre Werke sind heute in bedeutenden Museen wie dem Museum of Modern Art in New York ausgestellt. Marc Quinn, ein britischer Künstler, ist bekannt für seine Arbeiten über den menschlichen Körper und seine Veränderungen, einschließlich seiner Skulpturen von Alison Lapper, einer Künstlerin, die ohne Arme geboren wurde. Diese Skulpturen stellen die traditionellen Vorstellungen von Schönheit und Perfektion infrage.
Initiativen und Organisationen
Viele Organisationen und Initiativen setzen sich heute für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Kunstwelt ein. Beispiele sind die Disability Arts International, die Künstler*innen und Kunstorganisationen fördert, die mit Behinderung arbeiten, und VSA (Very Special Arts), ein internationales Netzwerk zur Förderung von Kunst und Bildung für Menschen mit Behinderungen.
Diese Bewegungen haben dazu beigetragen, Barrieren abzubauen und ein inklusiveres Umfeld zu schaffen, in dem die Kunstwerke von Menschen mit Behinderungen nicht nur akzeptiert, sondern auch gefeiert werden.
Weiterführend ist die Platform DIDAE ein wichtiges Sammelsurium an Unterrichtsvorschlägen, welche Thematiken und Methoden aufgreifen, die nicht Gang und Gäbe im klassischen Raum des Unterrichtens ihren Platz finden. Hier können Lehrkräfte sich bedienen, um wichtige Beispiele und Inspirationsquellen zu finden, welche dabei helfen, die statischen Grenzen des Kanons effektiv und aktiv aufzulockern.
Fazit
Die Rolle von Menschen mit Behinderungen in der Kunst hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Von marginalisierten und oft negativ dargestellten Figuren in der Antike und dem Mittelalter hin zu anerkannten und gefeierten Künstler*innen in der Gegenwart zeigt die Kunstgeschichte eine zunehmende Anerkennung und Wertschätzung für die Vielfalt menschlicher Erfahrungen. Heute steht die Kunst von und über Menschen mit Behinderungen für Inklusion, Individualität und die Feier des menschlichen Geistes in all seinen Formen. Durch die Anerkennung und Förderung dieser Künstler*innen wird die Kunstwelt bereichert und ein wichtiges Zeichen für gesellschaftliche Inklusion und Diversität gesetzt. Die Reise hin zu einer vollständigen Inklusion ist noch nicht abgeschlossen, doch die Fortschritte, die bisher erzielt wurden, zeigen eine positive Entwicklung hin zu einer gerechteren und vielfältigeren Kunstlandschaft. Wir möchten mit unserem Projekt zu dieser Entwicklung beitragen und laden Sie herzlich dazu ein, einen Blick auf unseren Instagram-Account: @disability_art zu werfen. Mit weiteren Beiträgen zu spannenden Werken ermutigen wir Sie auch, interaktiv diesen Account zu nutzen und Gedanken, Gefühle und Ideen in den Kommentaren zu hinterlassen. Somit dient der Account nicht nur der Repräsentation, sondern der aktiven Änderung des aktuellen Geschehens und ist nicht nur für Studierende angelegt, sondern für die allgemeine Gesellschaft, da sie die Stimme darstellt, welche der Kanon auch vertreten sollte.
Quellenverzeichnis
https://www.instagram.com/disability_art
Literatur:
- http://arthistoryteachingresources.org/lessons/disability-in-art-history/
- https://the-ndaca.org
- https://www.disabilityartsinternational.org
- https://www.inklusion-kultur.de/praxishilfe/disability-arts-ein-ueberblick/
- https://diversity-arts-culture.berlin/magazin/disability-arts-ein-ueberblick
- https://www.metmuseum.org/de/perspectives/articles/2022/7/disability-pride
Anregende Literatur und Links:
- Touba Ghadessi „Inventoried monsters- dwarfs and hirsutes at court“ in „Journal of the History of Collections“ vol. 23 no 2 (2011), S. 267-281
Ps.: die Literatur ist an einigen Stellen kritisch anzusehen, da nicht klar ist, ob der Autor ‚Monster‘ als Zitat oder als eigenen Gebrauch nutzt, wegen fehlender Kennzeichnung
- “Sculpting Body Ideals: Alison Lapper Pregnant and the Public Display of Disability,” in Disability Studies Quarterly 28, n.3 (Summer 2008). http://www.cds.hawaii.edu/
Für Lehrkräfte interessant: